RIMA ALDONINA

WIE BLUMEN DIE LIEBE RETTETEN

© Illustration Woldemar Schulz

„Wem haben sich alle Blumen bloß zugewendet?“, wunderte sich ein weißer Schmetterling. „Die Sonne scheint doch von der anderen Seite!“
„Ja, schau mal, wer da kommt…“, antwortete ihm ein anderer Schmetterling.
„Oh, unsere Selmina! Ich verstehe. Wollen wir sie begrüßen?“ Die Schmetterlinge vergaßen ihr Frühstück und flogen dem Mädchen entgegen, das auf dem Gartenweg entlang ging.
Selmina, die Tochter Gustavs, des Gärtners, liebten alle Blumen des Königsgartens. Und alle Bewohner des Gartens liebten sie auch. Die Blumen strahlten ihr die Blütenkronen entgegen, aber das Mädchen schien traurig und tief in Gedanken versunken zu sein. Es beachtete die Blumen gar nicht und ging vorüber.
Die Blumen nahmen es ihm nicht übel. Sie begleiteten das Mädchen mit den liebevollsten Blicken und versuchten zu klären, wem es am meisten ähnelte.
„Mir ist sie ähnlich, eindeutig!“,  behauptete die rotblonde Nasturzie. „Schaut, ihre Haare haben meine Farbe!“
„Die Haare sind nicht entscheidend“, widersprach die Lilie und wiegte ihre biegsamen Blütenblätter. „Das Wichtigste an einem Menschen ist seine Figur. Schaut, wie schlank sie ist und wie graziös sie sich bewegt – genau wie ich!“
„Sie hat aber blaue Augen wie ich“, wand das Vergissmeinnicht ein. „Die Augen sind das Wichtigste!“
„Streitet nicht, Mädchen“ schlichtete der Rote Mohnden Streit. „Wir wissen alle, dass sie wunderschön ist, aber die Arme ist unglücklich, und dabei können wir ihranscheinend gar nicht helfen.“
„Oh, ja-ja!“ seufzten die Blumen. „Sie hat gestern schon so bitterlich in unserem Pavillon geweint!“ Und alle Blumen bemitleideten die schöne Selmina. Sie konnten das Mädchen sehr gut verstehen. Blumen sind ja die zartesten und hilflosesten Wesen auf der Welt, ein jeder kann sie verletzen. Daher haben sie auch ihre Fähigkeit, andere zu verstehen und mitzuleiden.
Die Blumen wuchsen auf einem Beet neben dem luftigen Gartenpavillon an Sprossenwänden. Sie konnten durch das bewachsene Gitter nicht gut sehen, aber deutlich hören, worüber gesprochen wurde. Erst gestern hatte der junge Königssohn Prinz Dali Selmina in den Pavillon gebeten und ihr beteuert, wie schön sie doch sei und wie sehr er sie liebe. Das Mädchen hatte ihn darauf aber angefleht, sie zu vergessen.
„Wieso belästigt er sie?“ empörte sich die Petunie. „Sie hat doch deutlich gesagt, dass sie ihn nicht sehen will.“
„Du einfältige Einjährige! Alles muss man dir erklären“,  sprach der mehrjährige Phlox. „Sie liebt ihn ja auch, will es aber nicht zugeben, weil sie genau weiß, was sie erwartet.“
„ Ah, und das wäre?“ fragte die Petunie.
„Der Prinz darf doch niemals die Tochter eines Gärtners heiraten! Unsere Oma hat uns immer wieder von Dramen solcher Art erzählt.“
„Ihr habt es gut mit der Oma, ihr Mehrjährigen“, seufzte die Petunie. „Ich hatte leider keine Oma und werde nie eine haben“.
„Ja, das ist sehr wichtig, dass man seine Wurzeln behält“, sprachen die Mehrjährigen. „Wir erinnern uns und wissen sofort alles, ihr aber müsst alles jedes Jahr alles neu kennenlernen.“
„Psst!“, rief die Rose. „Hört ihr, was Selmina sagt?“
„Alle wissen, dass man für Euch im Nachbarkönigreich eine Braut gefunden hat und dass sie bald hier sein wird“, sprach das Mädchen und seine Stimme zitterte, weil es mit den Tränen kämpfen musste.
„Ich schicke sie zurück!“, beteuerte der Prinz heftig. „Ich will keine Andere außer dir!“
Selmina konnte es nicht mehr aushalten und lief davon. Als der Prinz den Pavillon auch verließ, kehrte sie zurück und weinte bitterlich und lange.
Die Blumen entschieden sich zu handeln. Sie wollten Selminas Liebe retten!
Aber was vermögen schon schwache, verletzliche Blumen, die sich nicht vom Fleck rühren können? Allein – nichts, aber zusammen mit Freunden?  Und davon hatten sie viele – kriechende, hüpfende und fliegende. Alle, die sie mit ihrer Schönheit anlockten und die sie mit ihrem Nektar tränkten. Die Blumen beriefen eine Große Freundesversammlung ein, und die Hummeln verbreiteten diese Nachricht im ganzen Königsgarten. Es kamen alle: die schnellen Frösche und die bedächtigen Kröten, die blanken Käfer und die schlauen Spinnen, natürlich auch die flinken, federleichten Grashüpfer. Eine bunte Schmetterlingsschar bedeckte die Wand des Pavillons. Im Blumenbeet wimmelte und summte es nur so. Auf der Tagesordnung stand eine Frage:  Was können wir tun? Der rote Mohn hatte schon Mühe, all die Vorschläge zu sammeln, die es von allen Seiten hagelte.
„Ich rufe meine ganze Verwandtschaft zusammen, und wir bedecken den ganzen Hof, so dass die ausersehene Braut gar nicht erst zum Schloss durchkommen kann“, schlug die alte Kröte Foka vor. „Um Selmina zu retten, sind wir bereit, uns zu opfern!“
Alle sahen Kröte Foka mit großer Bewunderung an, der Vorschlag kam aber nicht durch.
„Wir können die Braut sooft stechen, dass sie ihre eigene Mutter, aufgedunsen wie ein Luftballon, nicht wiedererkennt“, riefen die Wespen voller Eifer. „Auch ihre Eltern stechen wir“, fügten die Pferdebremsen hinzu. „Danach flüchten sie sich schnell davon!“
„Nein, das ist unfair, die Braut ist ja nicht schuld“, widersprach der weise Mohn, „wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen. „Denkt mal nach, überlegt gut!“
Die Freunde gingen nachdenklich auseinander. Die Blumen kamen schließlich  selbst auf eine Idee.
Endlich brach der Tag an, an dem die Braut zum Prinzengefahren werden sollte. Die Hummeln hatten allen damit die Ohren vollgesummt, wie schön die Kutsche des Königs aus dem Nachbarreich mit Gold und Schnitzereien geschmückt sei. Die Schmetterlinge plapperten durcheinander über die Gewänder der Gäste: des Königs, der Königin, der Prinzessin, aller Hofdiener und sogar über die Uniformen der Begleitgarde. Als sie die Pferde zu bewundern anfingen, unterbrachen die Blumen sie: „Und die Prinzessin? Wie sieht sie aus? Ist sie hässlich?“
Da meinten alle, sie sei durchaus niedlich, aber im Vergleich mit Selmina reichees längst nicht, genauso wenig wie derPavillon des Gartens verglichen mit dem Königsschloss. Zum Abend hin hatten die Blumen das Wichtigste herausgefunden: Die Prinzessin würde im dritten Stock rechts  weilen, ihre Fenster würden wegen der Hitze offen stehen. Im Blumenbeet begann ein geschäftiges Treiben. In der Dämmerung konnte man schwer erkennen, was genau da vorging. Es schien, der Mohn bereite mit seinen Freunden einen Schlafstoff, von dem alle niesen mussten; die Vergissmeinnichte legten ihre Blütenblätter ab und stapelten sie aufeinander, die Schmetterlinge und Hummeln flogen hin und her mit gewaltigen Lasten auf ihrem Rücken. Die größte Last aber trugen die Holzfrösche. Sie kletterten mit ihr geschickt am Efeuan der Schlosswand hinauf und verschwanden, einer nach dem anderen, im Fenster des Salons der Prinzessin.
Die kurze Sommernacht wich schließlicham Horizont und nahm alle Sterne und den Mond mit sich. Die Morgenröte entschwebte,  die helle Sonne verkürzte schon die langen Schatten der Bäume. Die Prinzessin-Braut  hatte jedoch immer noch nicht  ihr Zimmer verlassen, obwohl ihre Hofdame bereits dreimal an die Tür ihres Schlafgemaches geklopft, aber keine Antwort bekommen hatte. So entschloss sie sich endlich einzutreten und zu rufen: „Eure Hoheit, Seine Majestät bitten Sie höflichst zum Frühstück!“
Die Prinzessin öffnete die Augen, richtete sich im Bett auf und lächelte die Hofdame an.
„Oh nein, aber nein doch!“ rief die Dame entsetzt und lief, über den eigenen Rocksaum stolpernd, aus dem Schlafsalon. Hinter der Tür polterte es, weil sie vor Schreck die Treppe hinunterzustürzen schien.
„Was hat sie nur?“ wunderte sich die Prinzessin, schlüpfte aus den Federn und betrachtete sich im goldgerahmten Spiegel. Mit einem wilden Schrei „Ma-maaa!!!“ taumelte sie und fiel sogleich in Ohnmacht. Die herbeigeeilten Eltern bemerkten sogleich, dass das Gesicht, die Arme und die Schultern der Prinzessin mit tausend entsetzlichen blauen Flecken übersät waren. Auf der Nase und den Wangen hatten sich Warzen und rote, furchterregend aussehende, zum Teil schon aufgeplatzte Blasen gebildet.  Es war schlimm anzusehen!
Der Vater befahl, sie in eine Decke zu hüllen und sofort in die Kutsche zu tragen. In kürzester Frist war von dem Königspaar, der Braut und ihrer Garde nur noch eine Staubwolke wahrzunehmen. Ein riesiger Schwarm wilder Bremsen umgab die Flüchtenden.
„Solch eine Unhöflichkeit! Eine unerhörte Überheblichkeit!“, empörten sich die Eltern des Prinzen. „Diese seltsamen Gäste haben uns ohne Abschiedsgruß verlassen!“
Der Prinz freute sich insgeheim, obwohl auch er nicht verstand, wie sich das alles zugetragen hatte, zumal am Morgen kein Einziger die ausersehene Braut erblickt hatte.
Damit aber ist die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Da seine Eltern den Prinzen  um jeden Preis verheiraten wollten, erschien nach einer gewissen Zeit  im Schloss eine andere Prinzessin. Aber es erging ihr ähnlich wie der ersten, nur hatten die tausend Flecken auf ihrer Haut andere Farben. Auchder dritten Prinzessin erging es ähnlich. Schließlich breiteten sich in der ganzen Gegend Angst und Schrecken aus. Alle glaubten, im Schloss wüte eine furchtbar ansteckende Krankheit, die junge Mädchen befalle, kaum dass sie sich dem Palast näherten. Natürlich wollte nun kein König seine Tochter mehr in die Nähe dieses Reiches bringen.
Die Eltern des Prinzen waren untröstlich, die Blumen aber jubelten. Sie waren ja weder böse noch grausam und wussten genau, dass sie den Mädchen letzten Endes keinen Schaden zugefügt hatten.Denn die flinken Frösche hatten den Prinzessinnen doch nur blaue Flecken aus Blattsaft auf die Haut gemalt. Ja, und sie hatten ihnen rote und schwarze Beeren mit Baumharz in das  Gesicht geklebt – aber das war´s auch schon! All das war ja abzuwaschen. Sie hatten doch nur Selmina geholfen.
Der Prinz liebte sie natürlich wie ehedem. Eines schönen Tages fasste er sich ein Herz und bekannte dem König und der Königin: „Ich liebe ein wunderschönes Mädchen und bin bereit, sie heute noch zu heiraten. Ihr wollt doch, dass ich heirate?“
„Ja, das wollen wir von Herzen!“,  riefen die Eltern froh und umarmten ihren Sohn stürmisch. “Endlich!“  Doch wie bitter waren sie enttäuscht, als sie von seiner Wahl erfuhren….
„Die Tochter eines einfachen Gärtners? Das ist unmöglich! Wir verlieren unsere Würde und jeglichen Respekt in der Welt! Wir kränken die Ehre unsererVorfahren! Niemals kann es eine solche Missehe geben!!“
„Schaut doch nur einmal richtig hin, dann werdet ihr es erfahren: Meine Braut ist erhabener und edler als der ganze Adel unserer Vorfahren!“ Mit diesen Worten beharrte der Prinz auf seiner Wahl. „Was fehlt euch denn noch? Adliges Blut in ihren Vorfahren?Die Liste der Hoheitstitel? Dann erfindet sie euch doch selbst! Dichtet ihr eine Lebensgeschichte an, die euch zufriedenstellt, verleiht ihrem Vater einen Adelstitel, und alle werden glücklich. Für mich ist und bleibt Selmina die Liebste und die Beste!“
Die Eltern grübelten. bis die Königin nachgab: sie wollte ihren Sohn doch so gerne glücklich verheiratet wissen und Enkelkinder verwöhnen und bemuttern.
„Eure Majestät, vielleicht… Lassen wir das Gärtnerkind doch eine Prinzessin aus einem fernen Land heißen“, sagte sie zu ihrem Mann, dem König, „Ihre Eltern seien gestorben, woraufhin es dort einen riesigen Aufruhr gegeben habe. Schließlich habe ihr Onkel sie nach Europa gebracht. Was meinen Sie, Eure Majestät? Ist das nicht eine tolle Idee und die Lösung unseres Problems?“
„Aus welchem Land soll sie denn kommen…? Das Land müsste doch auch erfunden werden?“ monierte der König. „Ich weiß nicht so recht… Ich muss darüber weiter nachdenken und zu Geographie und politischen Umständen in der Ferne Näheres nachlesen.“
So ließen sich die Eltern alle möglichen Lehrbücher für Erdkunde und Politik vorlegen. Darin entdeckten sie so viel Interessantes, dass sie sich jeden Abend im Königlichen Arbeitskabinett einschließen ließen, um an Selminas Lebensgeschichte zu schreiben. Sie wählten für das Mädchen ein fernes Land aus, aus dem sie stammen sollte, erfanden hervorragende Königinnen als Großmütter und heldenhafte Könige als Großväter und schrieben ihnen Heldentaten und militärische Siege zu. Dabei diskutierten sie, lachten viel und stritten sich manchmal sogar – doch das Spiel gefiel ihnen sehr!
Die zukünftige Braut und ihren Vater schickte man auf eine Reise, auf der sie in den besten Palästen der Welt galanteUmgangsformen zu schätzen und die Hofetikette perfekt zu beherrschen lernten. Gustav, der Gärtner,  ließ sich einen Schnauzer und einen Bart wachsen, so dass man ihn nicht als solchen erkennen konnte, und er wurde zum Grafen Augustin ernannt. Später wurde der kluge Gärtner sogar zum Lieblingsminister des Königs. Selmina wurde fortan Emelina genannt, worüber sie kein bisschen traurig war. Schwieriger empfand sie es, ihren Vater „Onkel“ zu nennen, aber aus Liebe zu ihrem Prinzen war sie auch damit schnell einverstanden.
Auf der Hochzeit des Prinzen Dali und der südländischen Prinzessin Emelina priesen alle Gäste die Schönheit der Braut. Es erklang manchmal etwas fremd klingende, aber sehrlustige Musik, und der Garten war von tausend Lichtern erleuchtet. Die Nachtigallen gaben ein grandioses Konzert, die Frösche tanzten Rumba, die Schmetterlinge drehten sich im Walzertakt, und die Blumen dufteten so, als schwimme der Garten in einem erlesenen Parfüm.
Am meisten aber freuten sich die Blumen. Sie hatten die Liebe gerettet! Auch niemand davon wusste! Über getanes Gutessollte man nicht so viele Worte machen!.

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